Rede von Stadtbürgermeister Thomas Goller zum Volkstrauertag

„Wenn die Toten schweigen, beginnt immer wieder alles von vorn“.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

dieses Zitat des französischen Philosophen Gabriel Marcel ist ein Aufruf gegen das Vergessen und gegen die Passivität in einer Welt, in der Krieg, Terror und Gewalt vielerorts zum Alltag gehören und uns durch die modernen Medien Tag für Tag erreichen.

Um den Toten im übertragenen Sinne Marcels eine Stimme zu geben, eine Stimme, die auch durch die Berichterstattung in den Medien verbreitet wird, darum haben wir uns hier auf dem Bergfriedhof versammelt.

Wir gedenken heute des unermesslichen Leids, das die Kriege des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts über die Menschen gebracht haben.

Gerade weil wir es tagtäglich in den Medien sehen, drohen wir abzustumpfen, weil das Leid der Menschen weit weg zu sein scheint. Zwar merken wir, dass alles teurer wird, dass wir vor immer größeren Herausforderungen stehen und doch sollten wir uns an einem Tag wie heute bewusstmachen, was mit dem Begriff „Krieg“ verbunden ist: Verfolgung, Vertreibung, Vergewaltigung, Traumatisierung, Entwurzelung, Ohnmacht und Zerstörung. Gedenken wir also sowohl den Opfern als auch den Angehörigen, die als Geflüchtete unter uns leben und die ihr Leid oftmals still und unbewältigt mit sich herumschleppen.

Die Idee des gemeinsamen Gedenkens wurde erstmals 1919 geboren. Sie entstand durch die unmittelbaren Eindrücke aus dem Ersten Weltkrieg, dessen wohl blutigste Schlacht, die Schlacht an der Somme mehr als eine halbe Millionen Menschen das Leben kostete, über 100.000 starben an einem einzigen Sommertag.
Der erste Weltkrieg, den Historiker als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ charakterisieren, stellt sowohl im militärischen als auch im politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich eine historische Zäsur dar.

Es war der erste totale Krieg, der alle möglichen materiellen und menschlichen Ressourcen mobilisierte, der durch neue Techniken wie den Panzer, Giftgas, Flugzeuge und schwere Geschütze den Krieg und das Morden zu einer mehr oder weniger anonymen Angelegenheit werden ließ.

Dieser Krieg, der das alte Europa untergehen ließ, bereitete den Nährboden für den Aufstieg der Nationalsozialisten und schließlich für den zweiten Weltkrieg, der nach den aktuellsten Schätzungen bis zu 65 Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

Das Thema Krieg in Europa war bis vor noch nicht allzu langer Zeit etwas, das im kollektiven Bewusstsein glücklicherweise etwas Vergangenes war, etwas für den Geschichtsunterricht. Der Ost-West-Konflikt schien durch den Zusammenbruch der Sowjet-Union und eine Politik der wirtschaftlichen Annäherung und Öffnung weitestgehend überwunden.

Seit nun beinahe 21 Monaten müssen wir durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erkennen, dass dem nicht so ist.

Denn immer wieder erreichen uns tagtäglich Bilder und Videos aus der Ukraine, von denen wir gehofft hatten, dass wir sie auf unserem Kontinent niemals wiedersehen würden: zerstörte Städte, zerstörte Landschaften, zerstörte Menschen, auseinandergerissene Familien u.v.m.

Der Krieg in der Ukraine, dessen Auswirkungen wir jeden Tag durch Preissteigerungen und vieles mehr zu spüren bekommen, macht uns schlagartig bewusst, wie zerbrechlich eine über Jahrzehnte durch wirtschaftliche Beziehungen gefestigte Friedensordnung sein kann.

Wir befinden uns tatsächlich, wie es unser Bundeskanzler Ende Februar 2022 formierte, an einer „Zeitenwende“, in der die Herausforderungen in einer immer komplexeren, globalisierten Welt nicht leichter werden.
Wenn der deutsche Verteidigungsminister vor wenigen Tagen die Kriegstüchtigkeit Deutschlands als Handlungsmaxime gefordert hat, sodass Deutschland zum „Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung Europas“ werde, dann lässt dies in alarmierender Deutlichkeit erkennen, in welch einer angespannten Situation wir uns befinden.
Zu diesem schrecklichen Krieg, der ganz Europa in Atem hält, erreichen uns nun auch noch seit dem 7. Oktober die furchtbaren Bilder aus Israel und dem Gazastreifen. Auch die Wurzeln dieses Kriegsschauplatzes, ja des ganzen Nahost-Konfliktes reichen zu einem Teil in zurück in den ersten Weltkrieg und liegen auch im Antisemitismus begründet, der im Nationalsozialismus und den dadurch eingeleiteten Holocaust nie gekannte Ausmaße annahm.
Das Leid, das wir in diesem Jahr im Nahen Osten erleben, gefährdet vielerorts den Zusammenhalt in der Gesellschaft, auch bei uns in Deutschland.
Umso wichtiger ist es mir, bei allen Problemen am heutigen Tage auch einmal an eine Erfolgsgeschichte zu erinnern, die unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte: Ich meine, die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die mit dem Elysee-Vertrag vor 60 Jahren der Welt gezeigt hat, dass aus Feinden Partner und Freunde werden können. Und auch wenn die Gemengelage eine gänzlich andere war, als im Nahost-Konflikt darf diese Einigung doch als leuchtendes Beispiel der Diplomatie hervorgehoben werden, die seitdem als Inspiration für den europäischen Einigungsprozess gilt.
Uns allen muss klar sein, dass wir ein geeintes Europa brauchen, um den Frieden und die Freiheit in unserem Land zu bewahren und dass man auf europäischer Ebene stärker zusammen- statt auseinanderrücken muss, um die großen Fragen der Zeit zu lösen: angefangen von der Migration bis zum Klimaschutz.

Die Basis dafür bildet jedoch die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit und die beständige Erinnerung daran, dass die Demokratie unser wertvollstes Gut ist, dass es uns eben nicht egal sein darf, ob und wen wir im Kleinen wie im Großen wählen und dass an allen Fronten nur ein gemeinsamer Friedensprozess Früchte tragen - und für alle ein Gewinn sein wird.

Denn an vielen Stellen in der Welt leiden Menschen, weil die Politik sich nicht einigen kann, weil man aus wirtschaftlichen oder ideologischen Gründen offenbar gar nicht an einer Lösung interessiert ist.

Und so ist der heutige Volkstrauertag ein Aufruf, sich dafür einzusetzen, den Frieden zu bewahren und Konflikte auf diplomatischer Ebene zu lösen und eben nicht durch Terror, Krieg und Gewalt.

Und so hat der Volkstrauertag auch im Jahre 2023 nichts von seiner Aktualität verloren.
Gedenken wir also nun der Opfer von Krieg und Gewalt in Vergangenheit und Gegenwart und rufen wir uns einmal mehr die Worte des Philosophen Karl Jaspers in Erinnerung, der einmal formulierte:

„Im Grunde bleiben Frieden und Freiheit immer ein Wagnis. Sie müssen täglich neu errungen werden.“

„Täglich neu“ - diese Botschaft, dieser Appell, den der Volkstrauertag an uns alle und insbesondere auch an die junge Generation richtet, heißt:

Ziehen wir aus dem Geschehenen die richtige Lehre, tun wir alles uns Mögliche, damit wir und unsere Kinder nie wieder einen Krieg erleben müssen. Setzen wir heute und hier mit dem Volkstrauertag ein Zeichen gegen das gleichgültige Akzeptieren der Gewalt in unserer Zeit und gegen das Vergessen der Vergangenheit.

Begreifen wir also den Volkstrauertag sowohl als einen Tag des Gedenkens und als großen Appell für den Frieden.

gez.
Stadtbürgermeister Thomas Goller